Ein Bericht von Sebastian Schipfel
Bei der Weltmeisterschaft in Baku (Aserbaidschan) gab es im deutschen Team ein ganz besonderes Jubiläum: Vincent Kühne (25) war zum zehnten Mal bei einer großen internationalen Meisterschaft dabei. Was für ein Meilenstein! Nur die wenigsten Sportlerinnen und Sportler stoßen auch nur annähernd in solche Dimensionen vor…
Begonnen hat die internationale Meisterschafts-Karriere von Vincent Kühne 2011 bei der Jugend-EM in Varna (Bulgarien), außer 2015 und 2016 war er seitdem immer dabei, natürlich sukzessive in den verschiedenen Alters- bzw. Leistungsklassen: fünf Europameisterschaften – in Varna, Odivelas (bei Lissabon), Rzeszów, Holon (bei Tel Aviv) und Pesaro – sowie fünf Weltmeisterschaften – in Orlando, Paris, Antwerpen, Genf und Baku. In unterschiedlichen Formationen und Positionen, immer aber in der Disziplin Herrengruppe. Er ist Deutschlands Dauerbrenner auf internationalem Parkett und damit natürlich auch dienstältestes Nationalmannschaftsmitglied.
„Inzwischen lese ich Starterlisten anders als früher“, lacht Vincent. „Ich schaue vor allem auf die Jahrgänge und bin erleichtert, solange ich noch nicht der Älteste bin. Diesmal waren aber nur noch drei oder vier Teilnehmer vor mir.“
2019 war die Karriere von Vincent zwischenzeitlich schon für beendet erklärt. Nur wegen eines Verletzungsausfalls in der damaligen Senioren-Herrengruppe sprang er 2021 nochmal für seinen Verein in die Bresche. Prompt wollten ihn Partner und Trainer danach nicht mehr gehen lassen. Und jetzt winkt mit den World Games sogar nochmal ein ganz besonderes i-Tüpfelchen zum Abschluss der großartigen Laufbahn.
Dabei dauerte es, bis Vincent seine Leidenschaft für die Sportakrobatik entdeckte: „Ich kam von der Leichtathletik, aber da ging es 2009 für mich nicht mehr weiter. Ich bin am Anfang nur zur Sportakrobatik gewechselt und ins Training gegangen, um in Dresden am Sportgymnasium bleiben zu dürfen.“ Erst nach Jahren, bei seiner zweiten internationalen Meisterschaft 2012 in Orlando, habe es einen entscheidenden Moment gegeben: „Ich weiß nicht warum, aber dort bei der WM in der Warm-up-Halle hat es auf einmal Klick gemacht.“ Aus der Pflicht wurde Leidenschaft. Vincent erinnert sich noch genau: „Plötzlich war es nicht mehr ‚Ich muss…‘‚ sondern ‚Ich will‘! Ich wollte auf einmal so gut sein wie es nur geht. Ich wollte auf einmal selber, dass meine Füße gestreckt sind.“
Man muss es sich bewusst machen: 2011 hieß der Bundestrainer noch (einige Jahre lang) Vitcho Kolev, der DSAB-Präsident Martin Gerster, Israel hatte noch keine einzige internationale Medaille gewonnen. Eine vergangene Ära! Von den Aktiven hat es nur Vincent bis in die heutige Zeit geschafft.
Was hat sich aus Sportlersicht getan? „Die wichtigste Veränderung ist, dass wir Sportler unsere Teilnahme bei der EM und WM nicht mehr zu so einem so großen Anteil selbst bezahlen müssen wie früher. Für Orlando waren das damals 1.200 Euro pro Person, das war schon eine Hausnummer. Außerdem hat sich das Wertungssystem stark verändert und verbessert. Meine Anfangszeit war die Phase, wo es nur um Schwierigkeiten ging und die Top-Nationen deswegen vollkommen unerreichbar waren. Jetzt steht die Technik im Vordergrund, das macht den Wettbewerb zumindest etwas ausgeglichener.“
Aber auch in puncto Schwierigkeit geht es Schritt für Schritt vorwärts. „Das Programm, das wir aktuell zeigen, ist das schwierigste Niveau, auf dem ich je geturnt habe. Von allen meinen verschiedenen Formationen.“ In Baku ist Vincent zusammen mit Tom Mädler, Danny Ködel und Ben Ködel im Tempo-Finale nur haarscharf an Bronze und damit seiner ersten internationalen Medaille vorbeigeschrammt. In Balance und Kombi wäre vielleicht ebenfalls etwas gegangen, aber da fehlte den Dresdnern noch die Sicherheit in ihren Pyramiden.
Deshalb richtet sich jetzt der Fokus voll auf die World Games im Juli in Birmingham (USA). Da wollen die Dresdner zeigen, dass sie ihre Pyramiden beherrschen. Und vielleicht reicht es ja dann zur großen Sensation? „Die World Games sind schon nochmal etwas ganz Besonderes“, bestätigt Kühne. „Nicht nur für den Verband wegen der Fördermittel, sondern auch für uns als Sportler. Nur alle vier Jahre, nur die Allerbesten. Wenn man da dabei sein kann, ist das schon ein riesiger Anreiz.“
Vincent studiert in Leipzig Englisch und Sport auf Lehramt. Während des Semesters wohnt er in Leipzig in einer WG und pendelt zum Training nach Dresden. „Wahrscheinlich mache ich für die World Games jetzt aber ein Semester Pause an der Uni, um mich voll auf die Vorbereitung konzentrieren zu können. Zehn Trainingseinheiten pro Woche sollten schon zusammenkommen.“
Aber nach den World Games ist dann endgültig Schluss. Oder wenigstens für ein knappes Jahr. Denn im Rahmen seines Studiums will Vincent im Herbst nach Irland. „Die Bewerbungen sind raus!“ Wenn er zurückkommt, ist eines aber klar: „Ich werde der Sportakrobatik auf keinen Fall fernbleiben können. Vielleicht arbeite ich nach meiner aktiven Karriere als Trainer und Choreograf. Aber mal schauen, wohin das Leben mich trägt.“
Seine aktuellen Choreografien hat er übrigens schon selbst kreiert, aber auch Übungen für andere Teams und Vereine. Sportakrobatik ist für ihn ja längst keine Pflicht mehr, sondern Leidenschaft.